Hagel in Fohnsdorf am 6.Juli 1957

Es war am 6. Juli 1957, gerade einmal 11 Tage vor meinem 15. Geburtstag und es gab wieder einmal den „großen Familienbesuch“ in Fohnsdorf. In dem kleinen Häuschen meiner Großmutter in der Judenburgerstraße waren wieder einmal alle zusammengekommen, ihre beiden Söhne und zwei Schwiegersöhne und wenigstens zwei Frauen, eben ihre beiden Töchter, eine davon war meine Mutter. „Großes Orchester“ also, aber das war so nicht das erste Mal. Bei der Zusammenkunft ging es wohl um den Geburtstag des ältesten Sohnes und da wurde eben gemütlich beisammengesessen. Ich war in dieser Gesellschaft der Einzige der dritten Generation; wie weit ich mich da gelangweilt hatte oder auch vielleicht der erwach-senen Gemeinschaft auch Interessantes abgewinnen konnte, weiß ich heute nicht mehr.

Das Häuschen meiner Großmutter war alt, klein und bescheiden, war nur ebenerdig gebaut, nicht unterkellert und besaß sogar noch ein altes „Plumpsklo“ aus Holzbrettern und mit einem runden Holzdeckel. Dahin gelangte man durch einen schmalen Korridor an der Nordseite des Häuschens, der eine fast durchgängige Fensterfront hatte und mit einem Blechdach über einer dünnen Holzdecke eingedeckt war. Das dazugehörende Grundstück war gleichermaßen schmal und bescheiden, aber dessen Glanzstück war ein übergroßer und hoher Holzschuppen, der nicht nur als Lager für alles mögliche Zeug, etwa auch Brennholz herhalten musste, sondern in erster Linie als Werkstatt von meinem damals schon verstor-benen Großvater genutzt worden war, was auch eine reichhaltige Ansammlung verschiedenster Werkzeuge bedingte, die auf uns Kinder unendlich interessant wirkten und eine enorme Anziehungskraft ausübten. In diesen Schuppen, der auch einen spezifischen Geruch verströmte, einzutreten, war immer so etwas wie in ein geheimnisvolles Reich einzudringen. Allerdings hat sich die Fülle an Werkzeugen im Laufe der Jahre mehr und mehr verringert, bis eigentlich nur mehr unbrauchbare Reste verblieben waren, da mein um acht Jahre jüngerer Cousin mit zunehmendem Alter und wachsender Handfertigkeit ebenfalls ein Faible für das Werkzeug entwickelt hatte und sukzessive eines nach dem anderen verschwinden ließ und in sein Eigentum überführte. Da er selbst auch in Fohnsdorf und dazu nur einen Steinwurf entfernt wohnte, hatte er mir gegenüber diesbezüglich einen entscheidenden strategischen Vorteil.

Um zu dem Schuppen zu gelangen, muste man das Häuschen an seiner Vorderseite verlassen und dann an dessen Nordseite mit dem Flur auf einem Naturweg, d.h. auf einer mehr oder weniger festgetretenen Spur innerhalb eines bescheidenen niedrigen Bewuchses aus Moos und Gras nach hinten gehen, wo man dann an der Abdeckung der unmittelbar an das Häuschen anschließenden Senkgrube vorbei kam. Diese Abdeckung bestand aus ein paar grauen, weitgehend verwitterten, von Flechten besiedelten und nach unten durchgebogenen Brettern, wobei ich mich jedes Mal wunderte, dass die nicht schon längst zusammengebrochen waren und warum mein Großvater, der ja doch ein gewisses handwerkliches Geschick gehabt haben musste, diese Abdeckung nicht schon zu seinen Lebzeiten erneuert hatte. Wir Kinder wurden natürlich mit dem allerstrengsten Verbot, da drauf auch nur den geringsten Schritt zu machen belegt, haben dieses auch konsequent befolgt, zumal die möglichen Folgen eines Durchbruches unsere Phantasie nur allzu lebhaft beflügelten. Gerade die Tatsache, dass neben mir und meinem Cousin auch meine beiden Schwestern immer wieder Gäste meiner Großmutter waren, wobei ich sogar einmal eine ganze Woche dort verbracht hatte, machte für mich die konsequent unterlassene Reparatur der Senkgruben-Abdeckung zunehmend unverständlicher. Auf dem Grundstück gab es auch einen kleinen Gemüsegarten, der mir wegen seiner geringen Attraktivität für einen Buben bzw. jungen Burschen nicht weiter in Erinne-rung geblieben ist. Nach dem Tod meiner Großmutter wurde das Häuschen umgehend abgerissen und ist nun seit vielen Jahrzehnten nur mehr Teil unserer Familiengeschichte und hat keine weiteren Spuren hinterlassen.

So weit sind wir aber noch nicht. Noch schreiben wir den 6. Juli 1957 und noch sitzt die Familie beim Geburtstagsfest beisammen und noch steht unser Auto, ein gerade einmal vor einem Jahr angeschaffter Volkswagen, der sogar mit einem Namen versehen worden war und „Toni“ genannt wurde, draußen auf der Straße. Die Geselligkeit der kleinen Feier wurde aber abrupt gestört durch einen lauten Knall. Durch einen einzigen, unüberhörbaren, harten metallischen Krach. Wir hatten ihn alle gehört und er hatte uns auch entsprechend erschreckt, aber was genau seine Ursache war, konnte nur vermutet werden. Dem Klang nach war er am ehesten mit dem Blechdach des Flures in Verbindung zu bringen. Möglich, dass da jemand einen Stein draufgeschmissen hatte. Das wäre dann aber doch eine Frechheit und Sauerei grewesen! Wer erlaubte sich denn solch einen üblen Scherz? Jedoch eine sofortige Nachschau erbrachte kein aufklärendes Ergebnis. Draußen war alles ruhig und kein Mensch zu sehen, also setzte man sich wieder zu Tisch, ging zur Tagesordnung über. Doch der unmittelbar danach folgende zweite, nicht minder laute und heftige Knall verlangte nun doch eine gründlichere Nachschau, denn jetzt wollte man der Sache wirklich auf den Grund gehen. Das konnte ja nicht mit rechten Dingen zugehen und was da wirklich dahinter steckte, wäre denn doch herauszufinden. Wärend wir wie auf Kommando aufsprangen, um nach draußen zu gehen, machten wir wohl auch einen ersten Blick durch die straßenseitigen Fenster und da war doch ein weißes Ding zu sehen, das da schräg von oben wie ein Blitz nach unten sauste, auf den Asphalt aufprallte und in zahlreiche glitzernde Fragmente zersprang. Irgend jemand schrie „Hagel!“ und gleich darauf reagierten wir alle wie Ameisen, in deren Haufen jemand hineingestochen hatte.

Da stand doch das Auto draußen unter freiem Himmel! Der Stolz der Famlie! Das Kultobjekt, der Liebling, der mit einem Namen versehene Schatz, nicht einmal ein Jahr alt und damals noch das einzige in unserer ganzen Siedlung! Alles andere war jetzt zweitrangig, es musste nur das Auto geschützt werden, der „arme Toni“, wie ihn mein Vater tatsächlich in seinem Tagebuch nannte, in das er das Ereignis später kurz notiert hatte. Schnell! Decken! Wir müssen ihn mit Decken zudecken! Da wurde hektisch gekramt und gesucht, wurde auch die eine oder andere „Kotze“ (graue Pferdedecke) gefunden und dann machten wir uns auf den Weg hinaus aus dem Haus und über die Straße zum „armen Toni“. Es fiel jetzt aber ein Hagelkorn nach dem anderen, einmal knallte es auf dem Blechdach, dann auf der Straße und dann auf dem gegenüberliegenden Haus. Die Schlossen fielen zunehmend dichter und da war wohl auch zu befürchten, dass man selbst getroffen wurde. In dieser Situation, in der es rundherum knallte und platzte, in der die Angst mehr und mehr wuchs, verengt sich der Blick, krümmt sich der Körper und dominiert die instinktive Angstreaktion über das rationale und emotionslose Handeln. Ich weiß noch, dass ich eine Decke auf das Auto geworfen hatte, registrierte noch, dass mein Vater von einer Hagelschlosse auf der Schulter getroffen wurde, aber dann flüchtete ich, die Hände über den Kopf haltend in den Schutz des Häuschens meiner Großmutter. Die anderen hielten wohl noch die eine oder andere Minute durch, schafften es auch noch, das Auto einigermaßen zuzudecken und die Decken sogar noch mit Ziegeln zu beschweren, damit sie nicht vom Wind weggerissen würden, aber dann flüchteten auch sie unverzüglich in das Häuschen. Jetzt aber ging es erst so richtig los und ich fand mich schließlich zwischen meinen Onkeln im Flur stehend und das Inferno durch die Fensterscheiben beobachtend. Ein Gespräch war bei dem ohrenbetäu-benden Getöse auf dem Blechdach über uns natürlich nicht möglich, also hüllten wir uns nolens volens in Schweigen. Es war als würde ein Dutzend Spengler da oben das Blechdach mit ihren Hämmern bearbeiten. Draußen rauschte ein Segen aus weißen Eisbrocken vom Himmel, die Schlossen rissen Blätter und Zweige von den Bäumen, Ziegel von den Dächern und verwandelten die Umgebung in ein Chaos aus Eis, Wasser, Laubwerk und Splittern. Sie sprangen auch noch am Boden auf, bevor sie irgendwo hinrollten. Nicht vergessen werde ich jene Schlosse, die unmittelbar vor mir draußen auf dem schmalen Pfad aufsprang und dann auf ihrem Weg nach oben das kleine Fenster genau vor meiner Hüfte klirrend durchschlug. Deutlicher kann man die Wucht des Geschehens wohl nicht schildern.

Da standen wir nun, machtlos gegenüber diesem Naturereignis, so wie eben die Menschen immer machtlos gegen die Kräfte der Natur sind und wohl auch sein werden. Wir konnten nur ohnmächtig zusehen und uns in das Geschehen fügen. Für mich und vielleicht wohl auch für meine Eltern gab es die kleine Erleichterung, dass es nicht unser Zuhause war, das da betroffen war, aber was empfand angesichts des Desasters meine arme Großmutter? Na wenigstens waren zwei ihrer Söhne anwesend und sollten ihr bei den Aufräumungsarbeiten dann doch helfend zur Seite stehen können.

Irgrndwann ließ der Hagel dann doch langsam nach, war die Energie der Gewitter-zelle abgebaut, war der Hagel wohl auch in Regen übergegangen und es wurde allmählich wieder still. Wir gingen zurück in die Stube und wurden dort mit der Wirkung des Unwetters auf die Straßenfront des Häuschens konfrontiert. Da gab es zwei Fenster, beide noch mit doppelten Flügeln versehen, wobei der Innere üblicher-weise nur im Winter angebracht wurde und daher auch „Winterfenster“ genannt wurde; heute würde man dazu auch „Kastenfenster“ sagen. Die Scheiben dieser alten Konstruktion waren noch klein und quadratisch, gerade einmal so groß wie eine ausgebreitete Papierserviette und so ein Fenster hatte deren acht Stück innen und entsprechend acht Stück außen. Und alle 16, wirklich alle 16 ohne eine einzige Ausnahme waren zertrümmert, zertrümmert von Hagelschlossen, die da „nur“ schräg von oben und durchaus nicht senkrecht gegen die Scheiben gekracht waren. Innen ein Haufen Glasscherben und das ganze Zimmer unter Wasser.

Irgendwann waren wir dann auch wieder draußen beim „armen Toni“, haben die klitschnassen Kotzen entfernt und die „Bescherung“ begutachtet. Ein Scheinwerfer-glas war zertrümmert, alle Zierleisten waren zerklopft und damit Schrott, das Dach sah aus, als hätten die imaginären Spengler nicht auf das Blechdach des Flurs, sondern auf das Autodach gehämmert. Ein Muster aus lauter kleinen Dellen gab dem Auto ein völlig neues Design! Besser sah es beim Kofferraumdeckel und auf der Motorhaube aus, da waren wohl zwei Decken übereinander gelegen, oder das Blech widerstandsfähiger, jedenfalls war das Auto dort nicht ganz so zugerichtet wie an seinem Dach. Schließlich waren wir auf dem Heimweg, fuhren die Judenburger-straße aufwärts und dann rechts ab durch die Grazer Straße in Richtung Knittelfeld. Immer wenn wir an einem Haus vorbeikamen, mussten wir durch ein Feld aus knöchelhoch angehäuften Trümmern von Dachziegeln fahren, knirschend und klappernd und wenn wir an einem Baum vorbeikamen, war es eben ein Feld aus Laub und Zweigen, das wir knackend durchquerten. Einmal durch das Grüne, dann wieder durch das Rote. Es war schlicht und einfach makaber, was der Hagel hier angerichtet hatte. So ging es dahin bis wir Fohnsdort verlassen hatten, aber dann in Knittelfeld schien längst wieder die Sonne und von Hagel oder Regen gab es da keinerlei Spuren. Wir hielten dann noch beim Parkkino, wo sich schon etliche Leute eingefunden hatten, die wohl auf den Beginn der Spätnachmittag-Vorstellung warteten und die unser Auto, den „armen Toni“ bestaunten wie ein exotisches Fahrzeug aus einer anderen Welt. Nach einigen Tagen waren aber auch diese Spuren dank des Einsatzes der Spengler einer Autowerkstatt behoben und das Auto zeigte sich wieder in der alten und gewohnten Fasson. Ich für meinen Teil hätte das vielleicht alles so belassen wie es war, denn das waren immerhin die Narben einer erfolgreich bestandenen Schlacht, die man durchaus stolz der Umwelt zur Schau hätte stellen können. Aber dieser Art von Phantasie konnten meine Eltern wohl nichts abgewinnen.